Haben Sie schon mal etwas von der „Sozialen Frage“ gehört? Nein? Annie Sommer auch nicht. Deshalb startet sie mit Friedrich von Bruck, einem Internetbekannten, einen Chat, in dem sie sich über die augenscheinlichen gesellschaftlichen Probleme und mögliche Lösungen austauschen
Annie Sommer ist Musikerin und Mutter zweier Kinder. Mit ihrer Geige spielt sie in einem Sinfonieorchester und unterrichtet nebenher einige Musikschüler. Dr. med. Friedrich von Bruck ist promovierter Arzt und leitet seit über 25 Jahren eine eigene Praxis in einer mittelgroßen deutschen Stadt.
Durch einen Klick in den Social Media haben sich die beiden vor Jahren kennengelernt und bereits ein gemeinsames Buch veröffentlich. Die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung bereitet ihnen großen Kummer und da sie viele Hundert Kilometer voneinander entfernt wohnen, tauschen sie sich in einem Chat zu möglichen Lösungsansätzen aus.
Friedrich: Liebe Annie, in unserem letzten Buch hattest Du reichlich Gelegenheit, mir Fragen zu stellen. So einfach sollst Du mir diesmal nicht davonkommen🤓.
Annie: Das will ich hoffen! 😉
F: Was willst du hoffen?
A: Dass ich nicht so einfach davonkommen werde.
F: Achso! Na dann kommt hier direkt meine erste Frage: Wenn du ein ungelöstes Problem hast, wie würdest es angehen, um es möglichst erfolgreich aus der Welt zu schaffen. Du darfst nur mit einem Wort anworten. 🙃
A: Lieben. Das ist aber eine komische Frage, Herr Doktor!
F: Du bist halt nicht die einzige, die komische Fragen stellen kann. Okay, ich ziehe die Frage zurück und stelle eine andere: Hast du schonmal was von der sogenannten sozialen Frage gehört?
A: Nope! Aber fandest du meine Antwort mit dem Lieben so schlecht?
F: Oh, war das die Antwort? Sorry, vermutlich muss ich mich erst an Deine Art zu antworten gewöhnen. Also okay: die willst das Problem lieben. Weil in der Bibel steht, dass wir unsere Feinde lieben sollen? Wie sieht dieses Lieben denn konkret aus? Das wirst du ja beantworten können, denn welchen Sinn hätte die Antwort, wenn du damit nicht bereits in der Vergangenheit erfolgreich gewesen wärst (Für mich als Erkenntniswissenschaftler ist es wichtig, Begriffe zu klären. Sonst reden wir ständig aneinander vorbei).
A: Das mit dem Lieben war ernst gemeint, denn ich glaube zutiefst daran, dass ein Problem nicht zufällig auf uns zukommt, sondern weil es uns etwas sagen will.
Findest du das zu spooky? 🙈
F: Nein, jedes Problem, das auf uns zukommt will uns etwas sagen. Aber weich mir mit Deiner Gegenfrage nicht aus, denn du musst mir erstmal meine Frage beantworten, was „lieben“ konkret für die Lösung bedeutet. Meditierst Du über das Problem, gehst Du in die Kirche und zündest eine Kerze für das Problem an, schaust, ob es einen wissenschaftlichen Ansatz zur Lösung gibt oder lässt Deinen Bauch entscheiden, oder oder oder?
A: Ich versuche, überhaupt erstmal mit dem „Problem“ warmzuwerden, es aus verschiedenen Richtungen kennenzulernen und zu beleuchten. Im Grunde führe ich häufig innerlich Selbstgespräche mit dem Problem. Himmel! Zum Glück bin und bleibe ich hoffentlich anonym! Selbstgespräche!
F: Wow, ich merke, du bist eine Problemlöserin. Anschauen aus verschiedenen Perspektiven klingt super. Und wenn man wirklich liebt, dann ist man – ich behaupte das jetzt einfach mal – vorurteilsfrei. Was unglaublich wichtig ist, wenn man an ein Problem herangeht. Wenn dich Vorurteile, Glaubensbilder, Axiome oder Dogmen in Deiner Sicht auf mögliche Lösungen einschränken, wirst Du scheitern. Ein schönes altes Wort für vorurteilsfrei ist „selbstentäußert“ – Johann Wolfgang von Goethe spricht in dem Zusammenhang auch von der „anschauenden Urteilskraft“. Und damit beschreibst du, wie jede Wissenschaft an eine neue Fragestellung - wir verlassen einfach mal den Begriff Problem – herangehen muss. Da drängt sich eine Zwischen-frage auf: glaubst du, dass die heutige Wissenschaft frei von Dogmen und Vorurteilen an neue Fragestellungen herangeht?
A: Alle Menschen aus der Wissenschaft über einen Kamm scheren zu wollen, wäre sicher anmaßend. Aber ich beobachte häufiger, dass die Wissenschaft schon eine bestimmte Richtung zu stark vorausahnt, wenn sie an ein Problem herangeht. Ob sie damit nicht genau dieses gewünschte Ergebnis provoziert und ein Out-of-the-Box unmöglich macht?! Außerdem nervt mich, dass sie Wissenschaft oft um der Wissenschaft Willen forscht – also irgendwie für den Applaus der anderen Wissenschafter – und nicht, um der Gesellschaft einen Nutzen zu bringen. Oder liege ich mit meinem Eindruck völlig daneben?
F: Nein, leider nicht. Ich will keinesfalls alle Wissenschaftler über einen Kamm scheren – aber ich bin selbst seit fast 40 Jahren als Prüfarzt in der Wissenschaft tätig und weiß, was es zum einen für ein Geltungsbedürfnis unter Wissenschaftlern gibt und zum anderen wie wichtig es ist, für den Geldgeber von z.B. Medikamentenstudien „passende“ Ergebnisse zu produzieren. Doch dazu später.
Um auf meine erste Frage zurückzukommen: Nehmen wir an, du hast nun lange genug mit Deinem Problem „gesprochen“ und hast es aus verschiedensten Perpektiven angeschaut. Was ist der nächste Schritt?
A: Vielleicht hältst du mich jetzt für komplett bescheuert, aber die Lösung fällt mir dann einfach irgendwie vor die Füße. Es ergibt sich dann einfach. Ich weiß genau, wie ich handeln muss, ohne noch irgendwelche Listen geschrieben zu haben oder Vor- und Nachteile abgewogen zu haben. Die Lösung ergibt sich, wenn ich ein klein wenig Mut und Geduld aufbringen und das Problem reifen lasse.
F: Und das ist der erfolgreichste Weg ein Problem zu lösen? Klingt ein wenig danach, wie Politiker heutzutage die gesellschaftlichen Probleme angehen. Nur dass dann von dem Fehlversuch nicht nur Du, sondern womöglich Millionen von Menschen betroffen sind. Nehmen wir mal an, du bist durch dein Anschauen zu einer Lösung gekommen. Nennen wir sie mal vorläufige Annahme oder Arbeitshypothese. Wäre es nicht sinnvoller, sie nicht gleich umzusetzen, sondern allein oder vielleicht auch mit anderen zu überlegen, ob es Beispiele aus der Vergangenheit gibt, die zeigen, dass sie falsch oder eine Sackgasse ist?
A: Ich bin aber glücklicherweise keine Politikerin, sondern nur für mein eigenes Leben verantwortlich. Und dort funktioniert dieser Weg super. Wenn man beruflich Politik betreibt, erwarte ich ein komplett anderes Vorgehen. Da gehen gute Lösungen nur im Konsens mit anderen und unter Einbezug vieler Sichtweisen.
F: Da haben wir beide dann auch schon mal einen Konsens – zumindest was das Themenfeld Politik angeht. Im Bereich der Bildung oder auch der Wirtschaft kann das durchaus anders aussehen. Das Warum spare ich mir für später auf. Für viel später. Zunächst komme ich lieber auf meine zweite Frage zurück: was weißt du über die sogenannte soziale Frage? Hast Du Dich schon mal damit beschäftigt?
A: Soziale Frage? Du meinst, wer so sozial ist und meine Wohnung saubermacht, während ich es mir gutgehen lasse?
Ja, nimm mich ruhig auseinander in Bildungsfragen – ich freue mich drauf 😉
F: 😂 Auch das hat was damit zu tun. Wenn wir gemeinsam die Antwort auf die soziale Frage gefunden haben, kannst du auch dein Putzproblem angehen. Vorher nehme ich gerne die Einladung an, dich auseinanderzunehmen. Die Erlaubnis hast du mir natürlich nur erteilt, weil du weißt, dass ich auch die Lizenz zum Zusammensetzen habe 🤓 Was übrigens mit zwei genialen Fähigkeiten unseres Denkens zu tun hat, dem Verstand und der Vernunft. Aber das ist Thema für einen eigenen Chat.
Die soziale Frage wurde erstmals in den 1830er-Jahren gestellt, als sich im Zuge der frühen Industrialisierung und des damit verbundenen Pauperismus – der Massenverar-mung großer Bevölkerungsteile – die sozialen Missstände in Europa, insbesondere in Deutschland, deutlich verschärften. Der Begriff bezeichnete also zunächst die durch Bevölkerungs- und Städtewachstum entstehende Verelendung, später auch die Probleme des überschüssigen Handwerksgesellenstandes und die schlechten Arbeitsbedingungen der Frühindustrialisierung.
Heutzutage verstehen wir unter der „Sozialen Frage“ die Gesamtheit der sozialen Probleme und Herausforderungen, die sich aus gesellschaftlichen Veränderungen, wirtschaftlichen Entwicklungen und politischen Rahmenbedingungen ergeben. Während der Begriff ursprünglich die Missstände der Arbeiterklasse im Zuge der Industrialisierung bezeichnete, hat sich sein Bedeutungsfeld im Laufe der Zeit stark erweitert.
Heute umfasst die Soziale Frage insbesondere folgende Aspekte:
- Neue Formen der Armut, wie zum Beispiel die sogenannte „working poor“, also Menschen, die trotz Arbeit von Armut betroffen sind
- Wohnungsnot und steigende Mieten, die insbesondere in Ballungsräumen viele Menschen betreffen
- Ausgrenzung und Benachteiligung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, etwa Alleinerziehende, ältere Menschen, Menschen mit Behinderung oder Migranten
- Unsichere oder atypische Beschäftigungsverhältnisse (z.B. Leiharbeit, befristete Jobs), die zu sozialer Unsicherheit führen
- Herausforderungen durch den demografischen Wandel, wie Altersarmut oder Pflegebedürftigkeit
Es scheint so, als ob sich bislang keine Antwort auf die soziale Frage gefunden hätte, sich die Probleme, die darunter zusammengefasst sind, sogar weiter verschärft haben. Doch es scheint nur so. Die Antwort gibt. Es gibt sie seit rund 100 Jahren, doch wird sie bislang nicht wirklich wahrgenommen. Und selbst wenn sie wahrgenommen wird, wird sie nicht ernstgenommen oder gar umgesetzt.
A:Das heißt, dass es in unserer Zeit eigentlich nicht die eine soziale Frage, sondern die vielen sozilen Fragen gibt, auf die wir als Gesellschaft Antworten finden müssen, wenn wir möchten, dass sich ein glückliches Leben in Frieden und Wohlstand nicht nur auf einige wenige in unserem Land beschränkt. Habe ich das richtig verstanden?
F: Ja, du hast richtig verstanden, dass sich im Laufe der letzten 200 Jahre das Problemfeld eher vergrößert als verkleinert hat. Aber du bringst drei Begriffe ins Spiel und in einen Zusammenhang, den ich so nicht stehen lassen kann. Nehmen wir nur mal ein Gegenbeispiel: Für einen Rüstungsfabrikanten oder einen Aktionär von z.B. Rheinmetall-Aktien bedeutet eher Krieg Glück und Wohlstand als Frieden und überhaupt, wie definierst du Glück, Wohlstand oder gar Frieden? Du brauchst auf diese Frage nicht unbedingt zu antworten. Lass es mich für dich zunächst allgemeiner formulieren: wir müssen eine Lösung für das zunehmende soziale Ungleichgewicht in der Gesellschaft finden. Einverstanden?
A: Ich würde aber sowohl dem Rüstungfabrikanten als auch dem Aktionär von zum Beispiel Rheinmetall-Aktien unterstellen, dass sie nicht von prekären monetären Lebenssituationen betroffenen sind. Ob sie allerdings glücklich sind, sich mit dem Leid und Tod anderer Menschen eine goldene Nase zu verdienen, steht doch auf einem ganz anderen Blatt.
Ich gehe da völlig d‘accord, dass wir sehr dringend Antworten auf das soziale Ungleichgewicht finden müssen. Oder zumindest Perspektiven. Dabei wäre für mich die Richtung, dass sich der Einsatz für die Gesellschaft als finanzieller Wohlstand widerspiegeln darf. Und gleichzeitig aber das schaffen von Angeboten, wo sich alle Menschen mit SoftSkills einbringen können, wie beispielsweise Sportvereine oder eben auch die Musik, die ich ja noch ein weniger charmanter als Betätigungsfeld finde, weil hier – im Gegensatz zu vielen Sportarten – ein Miteinander statt Gegeneinander stattfindet und weil in der Musikwelt die Kulturen so schön miteinander verschmelzen können und daraus Neues Entstehen kann, auch, weil uns hörend oder lauschend bewusst wird, wie auch Andersartigkeit ein Gewinn sein kann.
F: Liebe Annie, jetzt habe ich dir durchgehen lassen, dass du Wohlstand nicht definieren musstest. Nun kommst du noch mit „finanziellem Wohlstand“ um die Ecke. Der berühmte Ökonom John Maynard Keynes schätzte die Liebe zum Geld folgendermaßen ein: als eine Geisteskrankheit, ein widerliches, krankes Leiden, das man mit Schaudern dem Psychiater überlässt. Könnte es vielleicht statt ums Geld auch in ein Richtung gehen, die die griechischen Philosophen mit dem wohlklingenden Begriff Eudaimonie bezeichnet haben, also einem erfüllten Leben, das zu einem Zustand innerer Ausgeglichenheit und Glückseligkeit führt? Im Zentrum steht dabei nicht das Streben nach äußeren Gütern oder Lust, sondern die Entwicklung und Verwirklichung der eigenen Fähigkeiten und Tugenden sowie ein Leben in Übereinstimmung mit dem eigenen Ethos (seinen inneren Grundwerten) und der Natur.
Vielleicht haben Du und ich ja ein grundlegend verschiedenes Welt- und Menschenbild? Ich finde, das sollten wir umgehend klären! Und in dem Zusammenhang auch, als was wir die Menschheit, die Gesellschaft, betrachten.
Fangen wir mit dem Weltbild an? Damit meine ich nicht das naturwissenschaftliche – ich denke, es herrscht Übereinkunft zwischen uns, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt –, sondern das philosophische bzw. kulturelle…
A: Herr Doktor, Sie stellen Fragen, bei denen man sich kurz wünscht, man hätte vorher heimlich Philosophie studiert, oder zumindest einen Tee aufgebrüht.
Aber okay: Weltbild, Menschenbild, Gesellschaftsbild… das volle Programm also. Ich weiß nicht, ob wir wirklich ein grundlegend verschiedenes Weltbild haben, oder ob wir nur unterschiedlich darüber sprechen. Ich neige eher dazu, Dinge erstmal zu erfühlen, zu durchleben, manchmal auch zu bespielen, bevor ich sie in Konzepte gieße. Vielleicht treffen sich unser Denken und mein Fühlen ja unterwegs irgendwo auf ein Glas Weisheit.
Also ja: Ich bin dabei. Aber bitte mit der nötigen Portion Leichtigkeit, sonst kippt mir mein Weltbild ins Dogmatische.
F: Sorry, bei so einem komplexen Thema die nötige Leichtigkeit 🥵😅 aber ich will es gerne versuchen und dich nicht verschrecken. Also Weltbild light: Besteht die Welt ausschließlich aus Materie, und alle Phänomene lassen sich auf physikalische Prozesse zurückführen (was man als Materialismus bezeichnet) oder ist die Wirklichkeit im Wesentlichen geistiger Natur und die materielle Welt ist Ausdruck oder Abbild des Geistes (Idealismus)?
A: Ich bin für Letzteres.
F: Fein, da bin ganz bei dir! Machen wir weiter mit dem Menschenbild light: sind wir eine Maschine, ein höheres Tier oder ein geistiges Wesen?
A: Wir sind sicher mal keine Maschinen, auch wenn manche Menschen meinen, das Verhalten müsse genormt und strikt geregelt sowie Prozesse optimiert werden. Wie siehst du das?
F: Wenn man sich anschaut, wie heute mit Menschenleben umgegangen wird, wie erwartet wird, dass wir zu „funktionieren“ haben, wie unsere Arbeitskraft- und zeit als „Ware“ gehandelt wird, könnte man tatsächlich annehmen, dass wir Maschinen sind. Demzufolge sollten wir einen Haufen Gesetze abschaffen, denn für Maschinen gelten keine Gesetze. Man kann sie einfach beliebig ein- aber auch wieder abschalten.
Aber vielleicht sind wir ja auch doch Tiere. Nämlich Säugetiere aus der Spezies der Trockennasenaffen. Dann haben wir Glück und man darf uns nicht einfach so ein- und ausschalten. Denn dann stehen wir unter der Obhut der Tierschutzgesetze.
Für mich sind wir aber weder Maschinen noch höhere Säugetiere, sondern geistige Wesen, die auf die Erde in einen physischen Leib inkarniert, also verkörpert oder wie man früher sagte „fleischgeworden“ sind, um einen Entwicklungsprozess durchlaufen zu können. Der spannenderweise ergebnisoffen ist. Also wir sind ergebnissoffene geistige Entwicklungswesen. Wie klingt das für dich?
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